von Prof. Dr. Erwin W. Heri[1]
Dass man
Aktien – wenn überhaupt – vorwiegend für die langfristige Vermögensanlage hält, ist hinlänglich bekannt. Dass es
daneben Phasen gibt, in welchen nicht nur einzelne Titel, sondern auch der
Aktienmarkt insgesamt Rallyes hinlegen, welche zur Erzielung kurzfristiger
Gewinne (oder zur Vermeidung kurzfristiger Verluste) hätten verwendet werden
können (man beachte den Konjunktiv!) ist ebenfalls ein Faktum. Es ist der
Tatsache geschuldet, dass die langfristige Entwicklung der Notierungen nicht
linear verläuft, sondern ausgesprochen zyklisch. Dies impliziert Phasen
positiver und negativer Erfahrungen, die den langfristigen Trend erst
ausmachen. Sowohl die langfristigen Trends als auch die kurzfristigen
Verwerfungen sind hinlänglich wissenschaftlich untersucht und erklärt worden.
Die langfristigen Trends der Aktienindices
reflektieren die Gewinnentwicklung der im Index enthaltenen Unternehmen. Und
ebenso bildet die Entwicklung eines einzelnen Titels in aller Regel den auf die
einzelne Aktie zugeschriebenen Gewinn (Earning per Share) einer Unternehmung
ab. Da nicht alle Unternehmen erfolgreich sind und sich entsprechend immer
wieder Veränderungen in den Indizes ergeben folgt, dass eine Aktienstrategie,
die auf breit diversifizierte Portfolios ausgerichtet ist, im Zweifelsfall
weniger Schwankungen aufweist, als ein Portfolio aus nur wenigen Einzeltiteln.
Einzelfirmen können zu Grunde gehen; der Index als Ganzes nicht. Und in der Tat
ist Diversifikation einer der wenigen „Free Lunches“, die an den Aktienmärkten
zu erzielen sind.
Die kurzfristigen Bewegungen der
Aktiennotierungen, die wir in der Folge „Events“ nennen werden, resultieren
andererseits aus einer effizienten Verarbeitung und Interpretation eines mehr
oder weniger zufällig eintreffenden Cocktails von Informationen, welche für die
Unternehmen für wichtig empfunden werden. Zu diesem Cocktail gesellen sich
Verhaltensmechanismen von Investoren, die in den letzten Jahren unter dem
Stichwort der Behavioral Finance erforscht wurden (erratische
Erwartungsänderungen, Herdentrieb, asymmetrische Risikoneigungen uvm.). Diese
Elemente liefern Erklärungsgrundlagen dafür, dass wir es statistisch gesehen
bei der kurzfristigen Aktiendynamik mit nicht-prognostizierbaren Zufallsprozessen
zu tun haben. Solche Prozesse sind zwar analytisch schwer durchdringbar, bieten
aber vielleicht gerade deswegen die Basis wildester Narrative darüber, wie man
wo, wann und auf welche Art und Weise zu investieren hat.
Solche
Geschichten sprechen tiefliegende Emotionen und Ängste der potentiellen Anleger
an. Dies erkennt man nicht zuletzt an der Art und Weise wie beispielsweise kurzfristige
Verwerfungen der Aktienmärkte bei den Medien und der breiten Bevölkerung wahrgenommen
und kommentiert werden – als „Events“ eben. Hierzu eine kurze grafische
Abhandlung:
Abbildung
1 gibt eine Darstellung der Entwicklung des Schweizer Aktienmarktes von 1972
bis 2017 (Pictet-Index, Gesamtrendite, indexiert 1972=100).
Die
Rendite liegt bei rund 8% p.a. Sie liegt damit in etwa dort, wo man weltweit
den langfristigen Trend von Aktiennotierungen über unterschiedlichste
langfristige Perioden in etwa ansiedelt.[2]
Wo genau man die langfristige p.a. Rendite
ansiedeln will, spielt in unserem Kontext keine Rolle. Entscheidend ist,
dass ein langfristiger Trend vorliegt, der sich vernünftig wirtschaftlich
erklären lässt (siehe oben). Der dargestellte Pfeil soll diesen Trend
repräsentieren.
Abbildung
2 beleuchtet die kurzfristigen Verwerfungen, die den langfristigen Trend
charakterisieren. Sie können heftig sein und führen regelmässig zu wilden
Diskussionen darüber wie gefährlich und unberechenbar die Aktienmärkte sich
gebärden.
Positive
Phasen werden dagegen kaum beachtet, da „man ja weiss, dass Aktienmärkte
langfristig ansteigen“. Diese tief
verwurzelte Attitüde asymmetrischer Interpretation positiver und negativer
Phasen der Aktienmarktentwicklung führt bei breitesten Bevölkerungsschichten zu
einer grundsätzlichen Abneigung der Aktie als Anlagevehikel – auch für die lange
Frist. Die Trends werden ausgeblendet, die Events obsiegen.[3]
Entsprechend
sieht denn das Bild des Aktienmarktes für Herrn und Frau Jedermann in etwas
angepasster Form etwa wie folgt aus:
Der
Aktienmarkt liefert in dieser Interpretation fast ausschliesslich eine Aneinanderreihung
negativer Events, bei welchem das langfristige Potential (der Trend) den kurzfristigen
negativen Emotionen geopfert wird. Da wir in einer event-getriebenen
Gesellschaft leben, definieren diese negativen Empfindungen zu einem grossen
Teil die Triebfedern der Vermögensallokation. Kommt hinzu, dass eine quasi
schmerzfreie Alternative in Form einer Obligationeninvestition existiert, die
sich bildlich wie folgt darstellen lässt:
Der
Anstieg des Obligationenportfolios von 100 auf 721 scheint zu genügen um
positive Emotionen auszulösen. Zumindest ist dieser Anstieg praktisch frei von
negativen Phasen. Die vergangenen Opportunitäten werden nicht zur Kenntnis
genommen.
Die
beschriebenen Muster spielen aber nicht nur bei Frau und Herrn Jedermann. Sie
haben auch eine polit/ökonomische Dimension. Es ist ja nicht so, dass
langfristiges Renditepotential, welches im Produktivkapital der Volkswirtschaft
– sprich: Investition in Unternehmenskapital – steckt, nur bei privaten
Anlegern ein Mauerblümchendasein fristet. Auch institutionelle Anleger wie
Pensionskassen und Versicherungen scheuen die oben beschriebenen „Events“ wie
der Teufel das Weihwasser. Dabei wird die kurzfristige Ausrichtung der Anlagen
– auch wenn sie langfristige Verbindlichkeiten abzudecken haben – teilweise
sogar von Aufsichtsbehörden über Anlagerichtlinien und/oder
Rechnungslegungsvorschriften „verschrieben“. Niemand will sich den
Reputationsrisiken stellen, die durch kurzfristige negative „Events“ definiert
werden. Denn es ist offensichtlich, dass solche Abschwünge gelegentlich länger
dauern können als die Geduld von Verwaltungs-, Aufsichts- oder Stiftungsräten.
Oder warum sollte sich ein Politiker für langfristig vernünftige
Anlagevorschriften einsetzen, wenn er riskiert, dass seine nächste Wahl gerade
in einen „Event“ fällt. Jeder hat seine Anreizstrukturen, die in aller Regel
kürzerfristiger  Natur sind, als die
Trends an den Finanzmärkten.
In
diesem Kontext könnte der dritte Beitragszahler – die Finanzmärkte – einiges
zur Lösung der anstehenden Probleme der Altersvorsorge beitragen. Wenn wir ihn
denn nur liessen. Dafür muss man aber erstens verstehen, dass die langfristigen
Trends der Aktienmärkte das Innovations- und Gewinnpotential der
Volkswirtschaft wiederspiegeln und man muss zweitens seine Aufmerksamkeit weg
von den „Events“ und hin zu den Trends richten. Vielleicht braucht es dazu auch
ein wenig Zivilcourage.
[1] Der Autor
ist Professor für Finanztheorie an der Universität Basel und Gründungspartner
der Finanzausbildungsplattform fintool.ch.
[2] Vgl. z.B. DIMSON,MARSH,
STAUNTON, Financial Markets Yearbook, 2017
[3] Solches Verhalten hat schon
früh Niederschlag in der (vor allem verhaltenstheoretischen) wissenschaftlichen
Literatur gefunden. Sie finden sich in den Arbeiten von Kahneman und Tversky
zur sogenannten Prospect Theorie. Hier wird beispielsweise nachgewiesen, dass
Verluste einen Anleger etwa doppelt so stark „schmerzen“ wie ihn Gewinne
„erfreuen“. (u.a.: D. Kahneman und A. Tversky (1979): Prospect theory: An analysis of decision
under risk, Econometrica, Vol. 47, No. 2, S. 263-291.)